Freikirchen in Österreich
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Evangelikale im Visier
eine Stellungnahme von Franz Graf-Stuhlhofer zur Sendung vom 2.-4.11.2021
02.11.2021

Der auch von vielen Freikirchlern geschätzte Radiosender Ö1 brachte vom 2. bis 4. November 2021 ein Radiokolleg mit dem Titel „Die Ekstatiker Gottes“ mit dem Untertitel: „Warum evangelikale Bewegungen weltweit expandieren“. 

Da in diesen drei Teilen ein Zerrbild von Evangelikalen und Freikirchen präsentiert wurde, mit vielen falschen Behauptungen, möchte ich hier Korrekturen bringen.

(Eine Stellungnahme von Franz Graf-Stuhlhofer im Auftrag der Freikirchen in Österreich)

 

Titel der Sendung und Untertitel passen nicht zusammen

Dieses Radiokolleg hatte die Evangelikalen zum Thema. Dazu passt aber der Titel nicht, denn er unterstellt, dass (so ziemlich) alle Evangelikalen „Ekstatiker“ wären. Das ist falsch; man kann viele evangelikale Gottesdienste miterleben, die keinerlei ekstatische Elemente beinhalten. Der Ausdruck „Ekstatiker“ eignet sich nicht als Bezeichnung für Evangelikale insgesamt.

Begriffe werden nicht geklärt

Die Bezeichnungen Evangelikale, Freikirchen, Pfingstbewegung und charismatische Gruppen werden wechselweise gebraucht, aber nicht geklärt. Vor allem der schon im Untertitel verwendete Begriff „Evangelikale“ müsste unbedingt definiert werden, sonst weiß der Zuhörer während der Sendung nicht, von wem hier die Rede ist (und von wem nicht).

Der Begriff „evangelikal“ ist unscharf. Um eine sichere Ausgangsbasis zu haben, wäre es naheliegend, von jenen Gemeinschaften auszugehen, die sich selbst ausdrücklich als evangelikal bezeichnen, nämlich „Evangelikale Gemeinden“. Von diesen Gemeinden kam jedoch niemand zu Wort. Aber es werden die Adventisten und die katholische Loretto- Gemeinschaft besprochen. Wenn jedoch der Begriff „evangelikal“ derart breit gefasst wird, verliert er seine Bedeutung – er wird diffus und letztlich nichtssagend.

Die im Radiokolleg vorgebrachten Pauschalurteile bezogen sich auf die Evangelikalen oder auf die Freikirchen. Ich berücksichtige die Urteile über beide Bewegungen, da die meisten freikirchlichen Gemeinden in Österreich durchaus als „evangelikal“ eingestuft werden können.

Eine mangelnde Vertrautheit mit der evangelikalen Welt wird im Radiokolleg bereits bei manchen begrifflichen Fehlern erkennbar. Da wird etwa der Begriff „Pietismus“ von pia = die Frömmigkeit abgeleitet. Das ist falsch; „Frömmigkeit“ heißt im Lateinischen „pietas“. Wer sich mit der christlichen Endzeiterwartung befasst, stößt auch auf den Begriff „Wiederkehr Christi“ (aber nicht, wie im Radiokolleg fälschlich angeführt, „Wiederkehr Christus“).

Freikirchen und Politik

In einer Sendung, die sich mit Evangelikalen und Freikirchen beschäftigt, überrascht es zu hören: „seit den Tagen der englischen Puritaner waren Politik und christlicher Glaubenseifer immer untrennbar miteinander verbunden“. Unzutreffend sind hier die Ausdrücke „immer“ und „untrennbar“. Die Freikirchen waren Vorkämpfer für eine „Trennung von Kirche und Staat“, stehen also eher für das Gegenteil. Von daher kommt auch ihr Name, zuerst in Schottland: „free church“ im Unterschied zur „Church of Scotland“. Eine solche Trennung bedeutet aber nicht unbedingt ein radikales Getrenntsein, sondern eine Auflösung der früheren engen Verflechtung, als der Herrscher vorgab, welcher Religion seine Untertanen anzugehören hatten.

Als eine Verbindung von Kirche und Politik wurde in Medien schon öfter ein Auftritt von Sebastian Kurz kritisiert: Bei einer charismatischen Veranstaltung im Juni 2019 war Kurz eingeladen, um zum Publikum zu sprechen; als er auf der Bühne stand, betete der australische Prediger für ihn. An dieses Ereignis wurde im Radiokolleg erinnert und behauptet, Kurz sei damals Bundeskanzler gewesen. Das ist falsch, denn Kurz verlor diese Funktion kurz zuvor durch einen parlamentarischen Misstrauens-Beschluss gegen die gesamte Bundesregierung.

Der Zeitpunkt für Jesu Wiederkommen bleibt offen

Günter Kaindlstorfer – der für dieses Radiokolleg Verantwortliche – sagte: „Wie viele, wenn nicht alle evangelikalen Gruppen sind auch die Anhängerinnen und Anhänger der Pfingstbewegung felsenfest davon überzeugt, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde.“ Diese Behauptung ist falsch. Das zukünftige Wiederkommen Jesu hat in den Freikirchen tatsächlich eine große Bedeutung. Der Zeitpunkt für diese Wiederkunft wird aber offengelassen. Manche Bibelleser vermuten, dass es in den nächsten Jahrzehnten soweit sein wird. Aber ich weiß von niemandem in Österreichs Freikirchen, der das in dieser zugespitzten Form („... felsenfest davon überzeugt, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde“) vertreten würde.

In Ewigkeit mit Gott leben – ein wichtiges Thema

Die im Untertitel des Radiokollegs gestellte Frage wurde bereits in der Ö1- Programmbeschreibung zu beantworten versucht: „Evangelikale Bewegungen sind deshalb so erfolgreich, weil sie mit Angst arbeiten“. Dieser Antwortversuch ist eine kaum begründbare Spekulation. Warum-Fragen in Bezug auf Mensch und Gesellschaft lassen sich nur schwer beantworten. Wenn jemand vor einem halben Jahrhundert in einer Pfingstgemeinde in Deutschland erlebte, dass oft auf die zukünftige Hölle für Ungläubige hingewiesen wurde, so reicht dessen Erlebnisbericht nicht aus, um erstens zu zeigen, dass Evangelikale generell dieses Thema stark betonen, und zweitens, dass darin ihr „Erfolgsrezept“ besteht. Was meine 50jährige Erfahrung in evangelikalen Gemeinden betrifft, so kann ich mich an keine Predigt erinnern, in der die Hölle ein wesentlicher Bestandteil war. Das schließt natürlich nicht aus, dass einzelne Prediger eine solche Betonung haben, aber allgemeines Kennzeichen der Evangelikalen ist diese Betonung nicht.

Rettung durch Glauben, nicht durch Werke

Die Freikirchen bejahen die Einsicht von Martin Luther, dass wir durch den Glauben an Jesus gerettet werden und nicht durch unsere Werke oder ein fehlerloses Leben. Daher trifft es auf die Freikirchen nicht zu, dass dort ständig versucht werde, „eine Perfektion zu leben, ein perfekter Christ zu sein, damit man dann, wenn die Abrechnung kommt, auch auf der richtigen Seite steht“. Eine solche Beschreibung hat das Wesen des freikirchlichen Glaubensverständnisses nicht erfasst.

Die Jesusbeziehung ist zentral

Zentral finden die Freikirchen im Neuen Testament die Beziehung zu Jesus. Daher ist für sie nicht so wichtig, welcher Kirche jemand angehört, sondern dass er eine Beziehung zu Jesus hat – und das ist in unterschiedlichen Kirchen möglich. „Diese Freikirchen bieten [...] so etwas wie eine Antwort auf alle Fragen, die man im Leben nur haben kann“. Ich kann mich an kein Mitglied einer Freikirche erinnern, der das von sich behaupten würde – und letztlich ist das Primäre für Freikirchen auch gar nicht eine Art umfassendes Wissen zu haben, sondern eine Beziehung.

Wohlstandsevangelium und Erfolgsglaube werden überwiegend abgelehnt

Es gibt tatsächlich eine bestimmte charismatische Richtung, auf die folgende Beschreibung zutrifft: Es wird oft „versprochen, dass mit der richtigen Glaubenshaltung auch automatisch so etwas wie eine Garantie auf Erfolg besteht“. Aber die meisten Freikirchen lehnen ein solches Verständnis entschieden ab. Ein Christ rechnet mit Gottes Hilfe, der ihn auch durch schwere Situationen durch trägt – aber Leid und Misserfolg bleibt auch dem gläubigen Christen oft nicht erspart.

Ein traditionelles Familienbild, aber kein extremes

Falsch ist folgende Behauptung: „Evangelikale und charismatische Gruppen propagieren ein traditionelles Familienbild: Vater, Mutter und so viele Kinder wie möglich – das ist das Ideal.“ Ich kenne viele freikirchliche Familien mit zwei oder drei Kindern. In meiner Gemeinde wirkten nacheinander vier Pastoren – sie haben jeweils ein oder zwei Kinder (und Pastoren haben ja eine besondere Vorbildfunktion). Das angebliche Ideal „so viele Kinder wie möglich“ hörte ich in Freikirchen nicht. Wer ehelos bleibt oder als Ehepaar keine Kinder hat, wird in Freikirchen ebenso respektiert.

Angeblich habe der „Evangelikalismus“ „diese traditionellen Bilder in Bezug auf die Rolle des Ehemanns als Ernährer, der Frau als Mutter“. Das stimmt für die Gegenwart nicht. Vor einem halben Jahrhundert kannte ich tatsächlich viele Familien, in denen sich die Mutter auf Kindererziehung und Haushalt konzentrierte und nicht berufstätig war, aber das findet man heute – auch unter Evangelikalen – nur selten.

Wie ist der Umgang mit jemandem, der eine Gemeinde verlässt?

Es kommt vor, dass Mitglieder ihre freikirchliche Gemeinde verlassen. Die Religionsfreiheit für alle war und ist ein Anliegen der Freikirchen, und das schließt natürlich auch die Möglichkeit mit ein, seine Gemeinde zu verlassen. Soweit vom Betreffenden gewünscht, bleibt sein Kontakt zu seinen Freunden in der Gemeinde erhalten. Aber oft nimmt dieser Kontakt in der Intensität ab, weil es nicht mehr so viele gemeinsame Interessen gibt, und weil man sich nicht mehr regelmäßig im Gottesdienst sieht.

Von einem „Kontakt-Abbruch-Befehl“ – wie im Radiokolleg behauptet – habe ich in meiner 50jährigen Freikirchengeschichte nichts mitbekommen. Diese Praxis der Zeugen Jehovas (radikaler „Gemeinschaftsentzug“) habe ich stets als unmenschlich kritisiert. Im Radiokolleg hieß es im Hinblick auf Ex-Mitglieder von Freikirchen: „Sie verlieren auf einen Schlag möglicherweise alle Freunde, alle Bezüge in ihrem Leben, vielleicht sogar ihre ganze Familie“. Das sei in Freikirchen angeblich ihre „Politik, dass wenn man sie verlässt, dass sie dann oft auch den Kontakt sehr bewusst abbrechen“. Diese Unterstellung stimmt nicht.

Anti-Intellektuelle mit naivem Bibelverständnis?

Freikirchen befürworten theologische Bildung, insbesondere bei jenen Mitgliedern, die im Gottesdienst predigen. Aber auch z.B. in Bibelkreisen ist der behutsame Umgang mit Bibeltexten oft ein Thema – es gibt eine Reihe hermeneutischer Prinzipien, die bei der Auslegung und Anwendung von Bibeltexten zu beachten ist. Dass „die meisten evangelikalen Gemeinschaften“ (u.a. werden „Methodisten und Heilsarmisten“ genannt) „ein strenges, an der wörtlichen Auslegung der Bibel orientiertes Christentum“ vertreten, stimmt nicht (das wurde aber in der Ö1-Programmvorschau zum Radiokolleg behauptet). Was hier mit „wörtlicher Auslegung“ gemeint ist, sollte erklärt werden – denn z.B. ein Gleichnis oder eine Hyperbel werden kaum „wörtlich ausgelegt“, sondern man bemüht sich darum, jenen Sinn zu erfassen, den der Redner oder Schreiber zum Ausdruck bringen wollte. (Wenn ein Engländer sagt, „it is raining cats and dogs“, so verstehe ich das ja auch nicht „wörtlich“, sondern eben im Sinne dieser Redewendung.)

Als einer der „Gründe, warum der Evangelikalismus erfolgreich ist“, wurde „der Anti- Intellektualismus“ genannt, leider ohne genauere Erläuterung. Aber für Evangelikale ist z.B. die verstandesmäßige Auseinandersetzung mit Einwänden gegen den christlichen Glauben wichtig. Eine Abwertung des Verstandes gibt es hier sicher nicht, sondern nur das Bemühen darum, Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Verstandes realistisch einzuschätzen.

Welche Fachleute wurden im Radiokolleg wofür herangezogen?

Einige der Fehler gehen auf Anne Koch (Gastprofessorin der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz) zurück, eine ganze Reihe von falschen Behauptungen macht Ulrike Schiesser, eine Mitarbeiterin der „Bundesstelle für Sektenfragen“ (diese Stelle ist aber nach eigener Aussage nicht zuständig für gesetzlich anerkannte Kirchen, und dazu gehören auch die „Freikirchen in Österreich“). Tatsächlich kompetent für das Thema der Evangelikalen ist Frank Hinkelmann. Er durfte zum Radiokolleg vor allem historische Fakten beisteuern, aber die Bewertung der Evangelikalen wurde in diesem Radiokolleg den Kritikern überlassen. Sehr breiten Raum nimmt jemand ein, der ein Buch über seine Kindheit in einer deutschen Pfingstgemeinde um 1970 schrieb – also über Erfahrungen, die bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Welche Bedeutung diese so lange zurückliegende Erfahrung für das

gegenwärtige österreichische Publikum – an das sich Ö1 vor allem wendet – haben soll, wird nicht klar.

Das Radiokolleg – ein „Bildungsradio“?

Dieses angebliche „Radiokolleg“ hatte phasenweise den Charakter einer Anti-Propaganda. Günter Kaindlstorfer will offenbar vor Evangelikalen und Freikirchen warnen – die er aber gar nicht kennt (sonst könnte er nicht so viele falsche Aussagen über sie machen).

Das Radiokolleg wird von Ö1 auch als „Bildungsradio“ bezeichnet. Dieses Radiokolleg über die Evangelikalen vermittelte aber kaum Bildung, sondern eher Desinformation.

 

 

Zur Person von Franz Graf-Stuhlhofer 

(franz.graf-stuhlhofer@univie.ac.at)

Meine Voraussetzungen zum Beurteilen der Lage in den Freikirchen

Zuerst einige Bemerkungen über mich. Ich wurde 1955 geboren und gehöre seit 50 Jahren zu Freikirchen. In dieser Zeit erlebte ich zahlreiche freikirchliche Gottesdienste mit, bekam als Mitarbeiter Einblick in verschiedene Bereiche, lernte in Gesprächen viele Mitglieder anderer freikirchlicher Gemeinden kennen und hörte von ihren Erfahrungen als Christen sowie als Gemeindeglieder. Meine Einblicke betreffen vorwiegend Baptisten- und Evangelikale Gemeinden, weniger umfassend Pfingst- und fremdsprachige Gemeinden. Wenn ich bestimmte, in jenem Radiokolleg behauptete Kennzeichen nie bei Freikirchen bemerkt habe, dann liegt nahe, dass diese Kennzeichen jedenfalls nicht in großem Maße für Österreichs Freikirchen gelten. Dass die erwähnten Ansichten oder Praktiken tatsächlich in der einen oder anderen Gemeinde vorhanden waren oder sind, kann ich natürlich nicht ausschließen. Aber aus vereinzelt vorkommenden Fehlentwicklungen sollten keine Gesamturteile über die Evangelikalen oder Freikirchen insgesamt aufgestellt werden – wie das im betreffenden Radiokolleg leider geschah. Aber auch wenn aktuell die im Radiokolleg angesprochenen Extreme für Österreichs Freikirchen insgesamt nicht zutreffen, können wir sie als Anstoß zum Hinterfragen nehmen, so dass wir sensibler werden für mögliche Fehlentwicklungen.

Vielleicht sind manche Leser skeptisch, ob jemand wie ich, der sich mit Freikirchen identifiziert, bei der Beurteilung von Kritik an Freikirchen objektiv sein kann. Diese Skepsis lässt sich durch einen Hinweis auf einige meiner Bücher zerstreuen. Ich setzte mich kritisch mit evangelikalen Sachbüchern auseinander, z.B. in „Das Ende naht! Die Irrtümer der Endzeitspezialisten“ (1992) oder in „Christliche Bücher kritisch lesen“ (2008). D.h. wo ich schwerwiegende Mängel bei „Gesinnungsgenossen“ bemerke, versuche ich auf eine Änderung hinzuarbeiten – und keineswegs reflexartig zu verteidigen.